Die Geschichte Bosnien-Herzegowinas

Die Geschichte Bosnien-Herzegowinas vom Mittelalter bis zum Tode Titos

Christopher Hunt

Die Geschichte Bosniens wurde immer wieder nach Belieben verfälscht, um persönliche Ansichten und Vorgehen zu rechtfertigen. Aufgrund der emotional aufgeheizten Athmosphäre und den Bedingungen, denen sich der Journalismus zu unterwerfen hat, wird eine Auseinandersetzung mit historischen Zusammenhängen vernachlässigt. Aussagen über die ethnische Struktur Bosniens und des restlichen Jugoslawiens sind zumeist hoffnungslos verzerrt. Nur durch eine eingehende Beschäftigung mit der Geschichte wird ein Verständnis für die Motive der augenblicklichen Kämpfe in Bosnien und im übrigen ehemaligen Jugoslawien möglich.
In der Antike erhielt Bosnien seinen Namen von einem Fluss namens Bosante bzw. Bosanius. Dieser Name wurde dem Land von slawischen Stämmen, die im 7. Jahrhundert nach Christus einwanderten, verliehen. Im Norden und Westen der Region lebten Kroaten, im Süden und Osten Serben und noch weiter südlich Bulgaren und Griechen.
Eingeteilt in autonome Volksstämme oder "Zupe", getrennt durch die zerklüftete Topografie des Landes, ohne eindeutige natürliche Grenzen und ohne ein festes Zentrum, besassen die Slawen Bosniens bis zum Ende des 12. Jahrhunderts keine eigene nationale Identität. Sie nannten sich zunächst nicht "Serben" oder "Kroaten" sondern einfach "Bosnier".
Die erste bedeutsame Person jener Zeit war ein Herrscher oder "Ban" namens Kulin (1180-1204). Man rühmte seine Herrschaft aufgrund des Wohlstandes, die sie dem Volk bescherte. Die Handwerkskunst blühte auf, und Kaufleute kamen von weit her, um mit wertvollen Waren zu handeln. Während dieser Zeit litt Bosnien unter der Rivalität zwischen der westlich-katholischen und der östlich-orhodoxen Kirche. Verschlimmert wurde dieser Zustand durch eine weitere religiöse Gruppe, die Bogumilen. Ihr Name geht zurück auf einen Priester des 10. Jahrhunderts namens Bogumil, was soviel heisst wie "von Gott geliebt". Die Bogumilen gründeten eine eigene Kirche, die sie die "Bosnische Kirche" nannten. Ihre grosse Anhängerschaft, die sowohl den Adel als auch das einfache Volk umfasste, war der Verfolgung durch die beiden anderen Kirchen ausgesetzt, ihre Glaubensgrundsätze verdammte man als ketzerisch. Bosnien wurde von Ungarn, deren kroatischen Vasallen, Franziskanermönchen, Bogumilen und von Serben beherrscht. Schliesslich erklärte sich der Bosnier Trvtko zum "König der Serben, Bosnien und der Küste".
Inzwischen marschierten die Türken in Europa ein. Sie eroberten 1354 Gallipoli, 1360 Adrianopel und rissen schliesslich Thrace und Bulgarien südlich der Donau an sich. Die Ordnung in Serbien zerbrach. Die Balkanländer schienen dazu bestimmt, den Türken zuzufallen. Bevor Trvtko starb, half er dem Herrscher von Nord-Serbien, eine pan-serbische Gemeinschaft aufzubauen, um die Länder auf dem Balkan vor den Türken zu retten. Jegliche Chance, die türkische Bedrohung abzuwenden und den Balkan zu sichern, war an einen militärischen Sieg geknüpft.
Am 15. Juni 1389 stand am Amselfeld im Kosovo eine vereinte christliche Armee von Serben, Albanern, Kroaten, Bulgaren und Ungarn den Türken gegenüber. Am Ende des Tages hatten die Türken sich durchgesetzt. Die Serben und die anderen Balkanvölker waren geschlagen. Der Zusammenbruch war derart niederschmetternd, dass er ein tiefes Trauma bei den Serben hinterliess. Das schreckliche Schicksal der Serben und anderer Christen wurde von Dichtern und Sängern als das "Epos von Kosovo" über Hunderte von Jahren überliefert. Der Jahrestag des Kampfes gilt den Serben bis in die heutige Zeit als Feiertag.
Nach der Niederlage im Kosovo flohen viele Serben in panischer Angst in den Norden und Westen. Einige liessen sich in Bosnien nieder. Die vollständigen Auswirkungen des türkischen Sieges auf Bosnien zeigten sich jedoch erst viel später.
1391 starb Trvtko, und es kam zu grossen Unruhen im Land. Von 1398 an gewannen die Türken zunehmend an Einfluss in Bosnien. Nach dem Fall Konstantinopels 1453 und der gänzlichen Unterwerfung Serbiens 1459, war das Schicksal des Lndes besiegelt. Als die Türken 1460 in Bosnien einmarschierten, kam niemand zur Hilfe, weder Venedig, noch Ungarn, noch der katholische Westen. 1463 unterwarf sich Bosniens letzter König den Türken, die ihn prompt köpften. Die Bogumilen hiessen die Invasoren als Befreier von der Verfolgung durch die westliche und östliche Kirche willkommen, was die türkische Übernahme des Landes wesentlich erleichterte. Viele bosnische Christen flohen nach Kroatien, Slavonien, nach Ungarn, sogar nach Venedig und Rom. Bedeutsam für die Geschichte Bosniens ist die Tatsache, dass die Bogumilen zum Islam konvertierten und somit - im Gegensatz zu den Christen - in der Lage waren, ihre Ländereien und Privilegien zu bewahren. In Serbien waren die Türken eine ausländische Besatzungsmacht, in Bosnien wurden die zum Islam übergetretenen Bogumilen zur privilegierten Klasse.
Im Gegensatz zu anderen von den Türken eroberten Gebieten unterliess es der in Bosnien eingesetzte türkische Gouverneur oder "Vali", sich in die politischen Entscheidungen der lokalen Behörden einzumischen. Eine neu entstandene bosnisch-moslemischen Aristrokratie verwaltete das Land. Die Christen wurden in der Folgezeit von den Türken und von ihren inzwischen zum Islam konvertierten slawischen Brüdern unterdrückt. Sie wurden gezwungen, hohe Steuern zu zahlen und Agrarprodukte zu liefern, man beliess ihnen jedoch die Freiheit, ihre Religion auszuüben.
Vor dem Einmarsch der Türken erlebten die Balkanvölker Bürgerkriege und politische Kriege, nichts kam jedoch den ethnischen Konflikten gleich, die nun folgten. Es bedarf des Wissens um die Form der türkischen Herrschaft über den Balkan, um das wahre Ausmass der von ihr ausgelösten Katastrophe, deren Folgen bis auf den heutigen Tag spürbar sind, zu begreifen. Den Christen wurde das Wahlrecht abgesprochen, den Völkern des Balkans - Moslems ausgenommen - grosses ökonomisches Leid zugefügt. Auch demographisch kam es zu Veränderungen: Städte entwickelten sich zum Zentrum türkischer Herrschaft, während auf dem Land die Bevölkerung weitgehend christlich blieb. Durch den Vormarsch des Islam, der Religion der Machthaber, wurden die Christen immer mehr verdrängt. Die Türken waren sich der ethnisch-historischen Unterschiedlichkeit ihrer Untertanen sehr wohl bewusst und nutzen diese, bis zum Ende ihrer Herrschaft im späten neunzehnten Jahrhundert, wirkungsvoll aus.
Zu den verheerendsten Folgen der türkischen Herrschaft auf dem Balkan gehörten die Vernichtung eigenständiger Kulturen und die Torpedierug des friedlichen Miteinanders der ethnischen Gruppen. Indem die Türken den christlichen Adel und die gebildeten Klassen ausschalteten und ihre christlichen Untertanen unterdrückten, zerstörten sie die Fähigkeit vorangegangener Kulturen zur Fortentwicklung. Während der Westen mit der Rennaissance eine neue Blüte erlebte, verloren die christlichen Völker des Balkans, insbesondere die Griechen, Serben und Bulgaren, ihre eigene Kultur und ihre kulturellen Führer, die die Geschichte der Länder verkörperten und in der Lage gewesen wären, sie zu bewahren. Die Erinnerung an die eigene Geschichte war bei den meisten Christen der Balkanländer weitgehend ausgelöscht, die Menschen von ihrer eigenen Kultur entfremdet. Besonders deutlich wurde das in der Literatur. Ein Grossteil der Kultur wurde "Folklore". Es gelang den Türken, die Menschen einander zu entfremden, nicht nur innerhalb des Balkans, sondern auch gegenüber dem Westen.
Die Auswirkungen der Kathastrophe, die die türkische Besetzung über die Region brachte, sind bis heute spürbar. Die Balkanvölker haben niemals das kulturelle Erwachen West-Europas erlebt. Während der Jahrhunderte andauernden Herrschaft der Türken blieben sie unberührt von der Rennaissance, der Rückkehr zu griechischen und römischen Ideen, der protestantischen Reformation, der wissenschaftlichen Revolution, der Aufklärung und der industriellen Revolution.
Zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert befanden sich die Türken mit verschiedenen Nachbarstaaten im Krieg. Bosnien war für sie, als Tor zu Ungarn und die dahinterliegenden Gebiete, von grosser strategischer Bedeutung. 1683 wurde ihre Expansion durch die berühmte Schlacht vor den Toren Wiens gestoppt. Die vereinten christlichen Streitkräfte, unter der Führung der polnischen Armee, beendeten das türkische Vordringen. Zum Ende des 17. Jahrhunderts wurde Bosnien zum Kampffeld der Türken und der anrückenden Österreicher. Während des folgenden Jahrhunderts kam es mehrere Male zu Kämpfen zwischen den beiden Ländern.
Das 19. Jahrhundert brachte grossen Aufruhr nach Bosnien wie auch ins übrige Europa. Nach Jahrhunderten der Unterdrückung begannen im gesamten Balkan die christlichen Bauern Wiederstand zu leisten. Der türkische Sultan Mahmut II (1808-1839), der die Gefahr eines möglichen Aufstandes der christlichen Bevölkerung erkannte, entschloss sich Reformen einzuleiten. Das wiederum verärgerte den bosnischen Adel und führte zu einer Revolte gegen den Sultan. Trotz mehrfacher Versuche der Türken, ihre Herrschaft durchzusetzen, lag die eigentliche Macht in Bosnien noch immer in den Händen des bosnischen Adels. Erst im Jahr 1850 gelang es den Türken, die Macht endgültig an sich zu reissen. Im gleichen Jahr löste Travnik Sarajevo als Hauptstadt ab.
An den grauenhaften Lebensbedingungen der christlichen Bosnier hatte sich in der Zwischenzeit nichts geändert. In anderen Regionen des Balkans hatten die Christen bereits erfolgreich gegen die türkische Unterdrückung aufbegehrt. Die Serben rebellierten in den Jahren von 1804-1813, die Griechen 1821. Ende des 19. Jahrhunderts erkannten westliche Diplomaten die Schwächung des türkischen Reichs. Die erniedrigenden Lebensumstände der christlichen Bosnier hatten zu wiederholten Aufständen gegen die türkischen Unterdrücker geführt. Das östereischich-ungarische Reich sah den Moment zur Intervention gekommen und verlangte von den Türken Reformen in Bosnien. Im gleichen Jahr vereinigten sich Serbien und Montenegro gegen die Türken. 1877 beteiligte sich auch Russland an dem Krieg, den die Türken schliesslich verloren.
Der Vertrag von Berlin (Juli 1878) stellte Bosnien und Herzegowina unter österreichisch-ungarische Herrschaft. Die Lebensbedingungen der christlichen Bauern änderten sich nur geringfügig, und so kam es 1881 zu einem erneuten Aufstand. Die neuen Herrscher waren gezwungen, Reformen durchzuführen, die Ende des Jahrhunderts endlich Früchte trugen. Lange Zeit hegte Österreich den Wunsch, Bosnien und Herzegowina in das Reich einzugliedern. 1908 wurde dieser Schritt vollzogen. Serbien, ein regionaler Konkurrent, wurde dadurch geschwächt. Der Zugang zum Meer wurde Serbien genommen.
1910 wurde eine gesetzgebende Versammlung mit beschränkter Macht eingerichtet. Die Zusammensetzung des Parlaments war proportional zum Verhältnis der Religionen in Bosnien. Gemäss einer Zählung im gleichen Jahr, setzte sich die Bevölkerung von Bosnien und Herzegowina wie folgt zusammen: 825.418 orthodoxe Serben (43,5%), 612.137 Moslems (32,4%), 434.061 kaholische Kroaten (22,8%) und 11.868 Juden (0.6%). Da interne Differenzen innerhalb des Landes bestanden, suchten die jeweiligen Gruppen ausserhalb Bosniens nach Hilfe und Führung. Durch den schwindenden Einfluss der Türken verloren die Moslems ihre aristokratischen Privilegien. Die katholischen Kroaten sahen sich mit den Ereignissen in Kroatien eng verknüpft. Die orthodoxen Serben orientierten sich an ihren Brüdern in Serbien. Die eigentliche politische Macht hingegen lag noch immer in den Händen der österreichisch-ungarischen Regierung.
Nachdem die Türken im ersten und zweiten Balkankrieg weitere Territorien verloren hatten, entstand in Bosnien eine Bewegung mit dem Ziel, die österreichisch-ungarische Herrschaft zu beenden. Viele geheime Verbindungen, die gegründet wurden, um die Türken zu bekämpfen, operierten im gesamten Balkan. In Bosnien plante die serbische Terroristengruppe "Schwarze Hand", österreichisch-ungarische Statthalter zu töten. Am 28. Juni 1914, dem Jahrestag der fatalen Schlacht im Kosovo, besuchte Herzog Franz Ferdinand, der designierte Kaiser des österreichisch-ungarischen Reiches, seine zukünftigen Untertanen. In Sarajevo wurde er von der "Schwarzen Hand" ermordet, was zu einer Verschärfung der Spannungen zwischen Österreich-Ungarn und Serbien führte. Wien bezichtigte Belgrad des Mordes. Belgrad wies jedoch jegliche Verantwortung für den Anschlag von sich. Österreich hatte einen Vorwand gefunden, Serbien den Krieg zu erklŠren.
Das Wiedererstarken Serbiens im 19. Jahrhundert veranlasste die Österreicher und Deutschen zu einer Politik der Stärke. Der historische Rassismus der germanischen Völker gegenüber den Slawen spielte hierbei ebenso eine Rolle wie der alte Traum vom "Drang nach Osten". Serbien, als stärkste südslawische Nation, war die einzige Macht, die den österreichischen Expansionsplänen im Wege stand. Um sich eine Legitimation für den angestrebten Krieg gegen Serbien zu verschaffen, stellte Österreich ein Ultimatum, das aufgrund seiner überzogenen Forderungen von den Serben unmöglich akzeptiert werden konnte. Serbien wies das Ulimatum zurück, und Österreich begann Belgrad zu bombardieren. Niemand war sich zu dem Zeitpunkt der verwickelten geheimen Allianzen bewusst, die sich in den Jahren vor 1914 gebildet hatten. Russland, das mit den christlich-orthodoxen Slawen sympathisierte, rief eine Mobilmachung seiner Truppen aus. Deutschland, das seinen österreichischen Verbündeten unterstützte, verlangte daraufhin von Russland, die Mobilmachung rückgängig zu machen. Russland kam dieser Forderung nicht nach. Deutschland erklärte am 1. August 1914 Russland den Krieg. Eine ganze Kette von Ereignissen hatte somit zum Ersten Weltkrieg geführt.
1915 war Serbien von Östereichern, Deutschen und Bulgaren besetzt. Die Serben hatten schwere Verluste zu beklagen. Die Bevölkerung von Serbien und Montenegro war um 20% reduziert. Eine Million Serben war getötet worden.
Ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt des Ersten Weltkrieges war das Vorantreiben südslawischer Vereinigungstendenzen. Südslawische Intellektuelle und politische Führer starteten einen Dialog über die jugoslawische Einheit. Die Deklaration von Korfu am 20. Juli 1917 bahnte der Vereinigung aller Serben, Kroaten und Slowenen zu einer einzigen Nation den Weg, und schon bald wurde die jugoslawische Nation Wirklichkeit. 1918 hatte sich der Balkan der türkischen bzw. österreichisch-ungarischen Fremdherrschaft weitgehend entledigt. Am 29. Oktober 1918 traten Kroatien und Slowenien der Jugoslawischen Nation bei.
Am 1. Dezember wurde das "Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen" ausgerufen. Der neue Staat schloss das Gebiet des früheren österreichisch-ungarischen Fürstentums von Bosnien ein. Bosnien war damit einer umfassenden jugoslawischen Nation untergeordnet. Zu jener Zeit verstand man Bosnien als eine Region, die von verschiedenen ethnischen Gruppen bewohnt wurde, von der keine eine echte Mehrheit bildete. Bosnien ähnelte nicht den anderen Staaten mit ihren klaren ethnischen Mehrheiten, wie z.B. Serbien.
Von Beginn an gab es Schwierigkeiten, ein arbeitsfähiges politisches System zu etablieren. Zwischen den beiden Weltkriegen entzweiten andauernde Spannungen Serben und Kroaten im Parlament. Einige plädierten für eine Föderation, andere für einen stark zentralistisch ausgerichteten Staat. Grund für viele Steitigkeiten waren zumeist ethnische Rivalitäten. Bei der Gründung von Jugoslawien nach dem Ersten Weltkrieg war man sicherlich zu hastig vorgegangen.
Der kühnste Versuch, das ursprüngliche Jugoslawien zu retten, wurde von König Alexander unternommen. Er war Serbe, fühlte sich jedoch der jugoslawischen Idee verpflichtet. Die Instabilität des parlamentarischen Systems bewog ihn im Januar 1929, die Macht zu übernehmen. In dem Versuch, das Gefühl für die nationale Einheit zu stärken, änderte er den Namen der Nation von "Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen" in "Königreich von Jugoslawien". Er verbot das Hissen jeglicher Flaggen, ausgenommen der jugoslawischen. Darüberhinaus teilte er das Land in neun administrative Regionen, deren Grenzen sich jedoch in keiner Weise mit ethnischen oder nationalen Grenzen deckten. König Alexander versuchte eine neue "jugoslawische Identität" zu schaffen, stiess damit jedoch auf Widerstände in Serbien und Kroatien. 1934 wurde er ermordet.
Obgleich sich das Leben in Jugoslawien nach Alexanders Tod wieder normalisierte, waren die Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg eine Zeit grosser Verwirrung und Uneinigkeit. Grund war zumeist der Status Kroatiens und seiner Grenzen. Die politischen Führer suchten nun nach einer neuen Übereinkunft zwischen Serben und Kroaten, um die Union zu stabilisieren. Im Verlauf der Geschichte hatten sich die Grenzen Kroatiens oft geändert. 1939 wurde Kroatien um Dalmatien und Teile Bosnien-Herzegowinas vergrössert.
Zu dieser Zeit tauchte erstmals eine kroatische Terroristengruppe namens "Ustascha" auf. Ursprünglich aus Italien stammend, verfügte die Ustascha über Verbindungen zu deutschen und italienischen Faschisten.
Bei Ausbruch des Krieges im Herbst 1939 bewahrte Jugoslawien Neutralität. 1941 verlangte Deutschland freien Durchgang durch das Land, um Griechenland anzugreifen. Jugoslawien lehnte dies ab und so kam es am 6. April 1941 zum Krieg. Schutzlos wurde Belgrad von der deutschen Luftwaffe bombardiert, 20.000 Menschen wurden getötet. Innerhalb von zwei Wochen hatte die deutsche Wehrmacht das Land überrannt. Eine Woche später erklärte Kroatien unter der Führung der Ustascha seine Unabhängigkeit; das übrige Jugoslawien wurde von Deutschen, Italienern, Ungarn und Bulgaren besetzt, Bosnien-Herzegowina Kroatien einverleibt.
Hunderttausende Serben, Juden und Roma wurden von dem Ustascha Regime vertrieben oder ermordet. Ante Pavelic, der Führer der Ustascha, fasste seine Politik gegenüber den Serben wie folgt zusammen: "Ein Drittel werden wir umbringen, ein Drittel aus Kroatien vertreiben und ein Drittel zum Katholizismus bekehren." Genau dies wurde in Kroatien und in den kroatisch kontrollierten Gebieten von Bosnien-Herzegowina getan. Schätzungen belaufen sich auf dreihunderttausend bis eine Millionen ermordeter Serben. Von ca. sechzigtausend Juden wurden fünfzigtausend umgebracht. Serben und Juden waren die eigentlichen Opfer der Politik Hitlers und seiner kroatischen Verbündeten. Viele von ihnen wurden auf der Stelle getötet, andere in Konzentrationslager gesteckt. In zahlreichen Fällen wurden Juden, serbische Frauen und Kinder in orthodoxe Kirchen getrieben, die dann in Brand gesteckt wurden.
Während des Zweiten Weltkrieges spaltete sich der Widerstand gegen die deutschen Besatzer in zwei Gruppen: zum einen in die jugoslawische Armee, die auch unter dem Namen Tschetniks bekannt war, zum anderen in die Partisanen, die Kommunisten waren. Die Partisanen operierten vorwiegend in den Bergen von Montenegro und Bosnien-Herzegowina. Die Tschetniks hielten sich mehrheitlich in Serbien auf. Ihr Ziel war die Befreiung Jugoslawiens von den deutschen Besatzern. Die Absicht der Partisanen war es, ein neues, kommunistisches Jugoslawien unter der Führung des Kroaten Tito zu gründen. Die Tschetniks waren eine irreguläre Gruppe, Tito hingegen besass eine hierarchisch gegliederte, effiziente Organisation.
Tito bekämpfte die Tschetniks mit Hilfe von Propaganda und anderen Mitteln. Die Alliierten unterstützten zunächst beide Gruppen, seit 1944 jedoch nur noch die Partisanen. Als Hitler's Drittes Reich zusammenbrach, waren die Deutschen gezwungen, sich aus Jugoslawien zurückzuziehen. Ende September 1944 hatten sie den Balkan verlassen. Die sowjetische Rote Armee rückte in Jugoslawien ein, und die Tschetniks waren die ersten, die sie als Befreier willkommen hiessen. Doch schon bald wurden sie von den Sowjets vernichtet. Auf diese Weise kam Tito an die Macht
Tito teilte Jugoslawien entlang der ethnischen Grenzen in sechs Republiken. König Alexander hatte jegliche Form von ethnischem Chauvinismus bekämpft. Es war sein Ziel, dass sich die Bewohner seines Landes in erster Linie als Jugoslawen sahen. Tito hingegen betonte bewusst die ethnischen Grenzen, was schliesslich zu Problemen führen musste. Die meisten Historiker stimmen darin überein, dass Tito Politik mit dem Ziel betrieb, Serbien und die Serben zu demütigen. Er hatte nicht vergessen, dass während des Zweiten Weltkrieges die mit den Partisanen konkurrierenden Tschetniks zum grössten Teil von Serbien unterstützt wurden. So wird verständlich, warum Tito zwei autonome Provinzen innerhalb Serbiens gründete - Vojvodina und Kosovo. Er zwang dadurch 30% aller Serben, ausserhalb ihrer eigenen Republik zu leben. Ein Umstand, der unter der serbischen Bevölkerung zu grosser Verbitterung führte.
Verursacht durch das grausame Vorgehen der Deutschen und Kroaten gegen die Serben während des Zweiten Weltkrieges, hatte sich das zahlenmässige Verhältnis der verschiedenen Religionsgruppen in Bosnien-Herzegowina radikal verändert. Die Bevölkerung bestand nun zu 45% aus Moslems, nur noch zu 34% aus Serben und zu 17% aus Kroaten.
Vor Titos Herrschaft betrachtete man die Moslems nicht als separate ethnische Gruppe oder "Nation". Tito beschloss, sie als eigenständige Gruppe anzuerkennen, indem er religiöse Zugehörigkeit mit ethnischer Identität gleichsetzte. Diese Entscheidung zog tiefgehende Konsequenzen nach sich.
In den 35 Jahren seiner Herrschaft gelang es Tito, die Entwicklung seines Landes massiv voranzutreiben. Obgleich etwa die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig war, nahm die industrielle Produktion dramatisch zu. Der Lebensstandard wuchs in Bosnien-Herzegovina und in den anderen Teilen des Landes. Nach einer Reihe politischer Veränderungen und Reformen erwies sich die neue Verfassung im Jahre 1974 als verhängnisvoll. Tito begründete eine Präsidentenschaft, die sich aus insgesamt acht Personen zusammensetzte; jede Region stellte ein Mitglied. Nach seinem Tode im Jahre 1980 machten sich die Schwächen und Widersprüche des politischen Systems bemerkbar. Uneinigkeit und Verunsicherung spalteten die Nation und führten schliesslich zum gegenwärtigen Blutvergiessen. Tito's Nationalitätenpolitik erweist sich auch heute noch als fatal.
Mit nationalistischen Parolen kamen in den achtziger Jahren ehemalige ranghohe kommunistische Funktionäre an die Macht.
Die alte kommunistische Denkart wird sowohl von Franjo Tudjman, einem ehemaligen Partisanengeneral und jetzigen Präsidenten des neuerdings wieder unabhängigen Kroatiens, wie auch von Slobodan Milosevic, dem Führer der kommunistischen Partei und augenblicklichen Präsidenten Serbiens, verkörpert. Tudjman und Milosevic sind typische Produkte einer totalitären Gesellschaft. Ihr Anliegen ist weniger das Wohl ihres Volkes, als vielmehr die Erhaltung der eigene Machtposition.
Die Behauptung, der Konflikt in Jugoslawien existiere schon seit Hunderten oder gar Tausenden von Jahren, ist falsch. Spannungen zwischen Serben und Kroaten bestehen erst seit 1919, der Zeit der ersten Gründung Jugoslawiens. Die Auseinandersetzungen zwischen bosnischen Serben und bosnischen Moslems hingegen stehen im Zusammenhang mit den bitteren Erinnerungen an die Zeit der türkischen Besetzung.
Es hat auf dem Balkan schon immer klar abgegrenzte ethnische Gruppen gegeben. Der augenblicklich blühende Nationalismus in dieser Region ist das Resultat ethnischer Gegensätzlichkeiten, die schon lange vor der türkischen Besetzung existierten. Das Siedlungsgebiet der einzelnen Volksgruppen stimmt in den seltensten Fällen mit ihrem Staatsgebiet überein. Auch die gegenwärtigen Grenzen wurden erst nach der Zeit der österreichisch-ungarischen Besetzung festgelegt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es nur zwei realistische Alternativen. Entweder hätte man das alte Jugoslawien auflösen, die Grenzen von Serbien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina neu festlegen und gegebenenfalls Teile der Bevölkerung umsiedeln müssen, oder man hätte alle inneren Grenzen abschaffen und die öffentliche Anerkennung ethnischer Gruppen verbieten müssen.
Ein grösseres Verständnis für die augenblickliche Situation wird erst möglich sein, wenn sich die Lage beruhigt hat und umfangreichere Informationen und Dokumentationen erhältlich sind. In der Zwischenzeit sind wir zum Handeln aufgerufen. Das Leiden und Blutvergiessen muss ein Ende haben.

Christopher Hunt, New York, Juli 1994