Annäherung an die Wirklichkeit

Angela Neuke

Die Welt hatte gerade gelernt, die neue Dimension des Blitzkrieges am Golf zu ermessen. Es war der erste elektronisch geführte Krieg, durch satellitengestützte Kommunikationstechniken den Zuschauern in Echtzeit vorgeführt. Die zu Helden erhöhten Fernsehreporter konnten sich mangels Bildern vom Kriegsgeschehen effektvoll hochschaukeln. Paul Virilio, Urbanist und Techniksoziologe sagte in einem Interview:
"Ihr Journalisten steht an vorderster Front. Ihr seid Soldaten, ob ihr nun für den Frieden seid, oder nicht. Die Medien sind vollkommen abhängig von diesem "US-Pool Video"und der CNN (...). Eine Desertation in diesem Krieg bestünde für die Journalisten-Soldaten darin, den Einsatz der Kommunikationswaffen zu denunzieren." (1)
Die Bilder des Golfkrieges sind die der Bombenangriffe, mit der Videokamera von Bord der US-Stealth Bomber aufgenommen. Über Fotoagenturen wurden Ausschnitte dieser Videos als Fotografien vertrieben und inzwischen massenhaft in den Printmedien verbreitet. Sie wurden zu Ikonen eines möglichen "sauberen Krieges". Die Messdaten und Zielkreuze auf den Fotografien suggerieren mit ihrer coolen Ästhetik absolute technische Überlegenheit, die Fehltreffer auf zivile Einrichtungen unmöglich macht.
Erst die Videos von Hunderten verkohlter Leichen eines zerbombten Bunkers in Bagdad machten misstrauisch. Diese wurden als Fotografien nicht massenhaft verbreitet, dafür aber die Bilder vergaster Kurden durch irakische Truppen und gefolterter Menschen in Kuwait. Es fehlen erstaunlicherweise noch immer die Bilder irakischer Opfer des US-Blitzkrieges. Zählt dieser Tatbestand wieder zu den üblichen journalistischen Praktiken politischer Propaganda in zivilkapitalistischen Presseorganen?
Mit den Fotografien des Vietnam-Krieges machten wir die Erfahrung, wie stark sie ins politische Bewusst-sein eingreifen können. Unvergessen bleibt das Bild von Kyoichi Sawada: vom Schützenpanzer, der einen Menschen an Füssen gefesselt hinter sich durch den Sand schleppt. Wird er gerade vor unseren Augen zu Tode gelyncht? Auch das nackte Mädchen rennt noch immer schreiend auf kalter Strasse mit, wenn die Vorstellungskraft zu kriegerischen Zerstörungen gefordert wird (Huynh Cong Ut).
Bilder wie diese haben dazu beigetragen den Vietnamkrieg zu beenden und Schuld zuzuweisen. Daran ändern auch die Fotografien von den am Krieg verzweifelnden US-Soldaten von Larry Burrows und Philip Jones Griffith nichts mehr.
Der deutsche Fotograf Hilmar Pabel publizierte zur gleichen Zeit weltweit die kitschige "Geschichte der kleinen Orchidee". Ein tödlich verwundetes vietnamesisches Mädchen wird 1968 in einem Hospital von einem US-Offizier mit himmelswärts gerichtetem Blick und Händchen haltend in den Tod begleitet.
Pabel arbeitete "dienstverpflichtet"als Fotograf im 2.Weltkrieg für das Nazi-Organ SIGNAL. Seine Bildgeschichte aus dem Vietnamkrieg zeigt, wie ungebrochen die Elemente der Propagandafotografie weiterhin wirksam bleiben. Er konnte noch zwanzig Jahre nach dem 2.Weltkrieg nicht reflektieren, dass er Helfer der US-Propagandamaschinerie wurde, indem er die Täter als barmherzige Samariter darstellt.
Doch zurück zu der Forderung von Paul Virilio, die Journalisten-Soldaten sollten von ihrer Arbeit desertieren! Es gäbe keine Bilder mehr, an denen sich politisches Bewusstsein bilden könnte. Gerade die offiziellen Fotografien, die Propagandabilder der Pool-Fotografen und die mit "Kunstfotografie" verwechselbaren elektronischen Bilder machen deutlich, welche Bilder fehlen. Wir wissen sehr genau, welche Grausamkeiten sich hinter der Treffsicherheit des Fadenkreuzes verbergen. Und wenn die Desinformationskampagne mittels elektronischer Ästhetik das Verdrängen blutiger Realitäten hervorrief, dann wurden diese durch die Wirklichkeit des traditionellen Krieges (in Bosnien und Kroatien) und ihrer blutigen Bilder ins Bewusstsein zurückgeholt. Fehlende Bilder provozieren eine lange Wut, eine Wut darüber, nicht anschauen zu dürfen, wie der gerade entflammte "neue Krieg" aussieht.
Sind die Bilder vorhanden, so wirken sie in langen Prozessen weiter. Wir erinnern uns an Bilder, die durch ihre Symbolkraft Situationen schildern, die wir nicht erleben wollen. Der Atompilz ist ein solches Zeichen, ein international verständliches Verbotsschild für weitere Experimente. Ohne die Fotografien der Betroffenen nach der Atombombenexplosion von Hiroshima, oder den Fotografien der Betroffenen nach den späteren über- und unterirdischen Atombombentests bliebe das Zeichen eine wundersame Wolke.
Hätten wir nicht längst Bilder von Zerstörungen durch Jagdflugzeuge früherer Kriege memoriert, wären wir tatsächlich der Gefahr ausgeliefert, dem sauberen Fadenkreuz der Stealth-Bomber zu trauen.
Mit dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien machen wir neue Erfahrungen mit schon vertrauten Bildern. Sie erinnern an den 2.Weltkrieg.
Flüchtlingsströme, Kinderverschickung, Care-Pakete, Leichenreste, zertrümmerte Häuser. Europäern sind diese Bilder noch aus eigener Anschauung und durch Fotografien bekannt, von Erzählungen der Eltern und Grosseltern, die sich in Verbindung mit Fotografien und Filmen zu einer Vorstellung der Greueltaten des 2.Weltkrieges entwickeln konnten. Wir wussten längst wie "Krieg" in Europa aussieht und waren trotz dieser neuen "alten Bilder" nicht in der Lage, den Krieg in Bosnien zu beenden.
Es scheint so, als müssten Menschen den Kriegen weiterhin zuschauen, da sie Kriege gefühlsmässig positiv empfinden und herausfinden wollen, inwieweit sie ihre "eigene Wildheit"aushalten können oder unter welchen Bedingungen sie auf die Rückkehr zum Naturzustand der Menscheit verzichten sollten. Diese These legt Ernst Tugendhat in seinem Artikel im KURSBUCH 105 dar und beschreibt darin unter welchen Bedingungen ein Krieg ausbricht: "Erstens eine Veranlagung im Menschen, die immer vorhanden ist; Zweitens, als die eigentliche Wirkursache, die Interessen der Mächtigen im Staat, und schliesslich das ideologische Motiv." (2)
Der Mensch braucht viele lebendige Bilder, um von seinem "status naturae" den langen Sozialisationsprozess zur Gattung Mensch zu durchleben, die sich im Gegensatz zu den Tieren in ihrer eigenen Gattung noch immer gegenseitig umbringt.
Noch bevor Fotografie und Fernsehen zu Massenkommunikationsmitteln wurden, beschreibt Rudolf Steiner 1904 in seinen Aufsätzen "Aus der Akasha Chronik" (3) den heutigen Menschen, im Gegensatz zu dem "Atlantier", als einen, der in Begriffen denkt, einen logischen Verstand und Kombinationsvermögen besitzt, mit denen er Regeln einhält.
Die "Atlantier" werden beschrieben als Menschen, die noch aufgrund ihrer Erlebnisse in Bildern dachten. Sie richteten ihr Urteil nach vielen Bildern aus, die sie im Laufe ihres Lebens erlebt hatten und schärften so ihr Gedächtnis.
Der immense Bilderkonsum achtzig Jahre später, im Zeitalter der Massenkommunikation, scheint zu beweisen, wie weit wir noch vom Menschen entfernt sind, der in Begriffen denkt und seinen logischen Verstand einsetzen kann, um Regeln einzuhalten.
Wir, die Bildproduzenten, als Fotografen, Filmer, Künstler, benutzen unsere Vorstellungskraft, um herauszufinden, welche Bilder den Zuschauern helfen, "Erinnerungen" im Sinne eines kollektiven Gedächnisses zu speichern, um einen Teil dazu beizutragen, Kriege zu verhindern.
Bilder vom Krieg können als Propagandamittel eingesetzt werden oder sich gegen den Krieg richten. Die Fotografien in diesem Buch, von Wolfgang Bellwinkel und Peter Maria Schäfer erarbeitet, sind reale Bilder vom Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Sie haben während der fünf Reisen, in denen sie gemeinsam den Krieg gesehen haben, zwei völlig verschiedene Konzepte verfolgt; sie verdichten, was sie an selben Orten unterschiedlich wahrgenommen haben. Die Bilder von Wolfgang Bellwinkel sind authentische Ausschnitte aus der Wirklichkeit. Einzelbilder im Sinne sozialdokumentarischer Fotografie. Bilder aus der Distanz gesehen, schaffen Raum, sich vorzustellen, wie der Krieg abläuft in einer uns bekannten Ferienlandschaft. Bilder der Nähe, die uns trostlose Kinder zeigen, die erbärmliche Suppe unter dem Weihnachtsbaum, den zerfetzten Leib des Soldaten, die Wasserstelle, den Ofen, der Wärme spendet. Alltagsbilder aus dem Krieg, die den Menschen in seinen existentiellen Nöten beschreiben. Angst, Hunger, Tod, Durst, Kälte.
Die grossformatigen Farbbilder zeigen in ihrer technischen Präzision jedes Detail dieser Kriegsrealität: Ausschnitte, die Nähe schaffen durch ihre narrative Genauigkeit. Die Annäherung an die Wirklichkeit vollzieht sich in der Abfolge der Bilder. Als Fotojournalist war Wolfgang Bellwinkel Zeitzeuge des Geschehens, er unterwirft sich nicht dem Diktat der plakativen Bildaussagen, den schnell verständlichen Formeln, geschaffen für die Print-Medien, sondern erreicht durch seine subjektiven und vielschichtigen Bilder eine tiefere menschliche Dimension.
Das Konzept zu Peter Maria Schäfers Arbeit bestand darin, neben den Orten des Krieges in Bosnien die Orte zu zeigen, an denen die Rituale des Krieges zelebriert werden. Die Darstellung der Gleichzeitigkeit der Geschehnisse in Bosnien und der jenseits des eigentlichen Kriegsgebietes liegenden Verflechtung von Macht und Ohnmacht lassen die Realität des Krieges mit seinen komplexen Strukturen sichtbar werden.
Schäfer hat sich an acht verschiedene Orte begeben und unmittelbar erfahren: das Leiden der Zivilbevölkerung; das machistische Verhalten der Frontsoldaten; die wohlgeordneten UN-Soldaten in Bosnien; die Hilflosigkeit der Friedensverhandler in Genf; die netten deutschen Soldaten in Ancona; Helfer für Sarajevo; den Staatsbesuch des UN-Generalsekretärs und die zeitgleich tagende "Deutsche Wehrtechnik e.V." in Bonn; die Opfer des Krieges in Bosnien.
Schäfer zeigt diese acht Themen in Blöcken zu je fünf Bildern, für die er - ähnlich wie Wolfgang Bellwinkel - eine dokumentarisch-journalistische Bildsprache gewählt hat. Formal besteht der Unterschied in der Wahl des quadratischen Formates, er verschafft sich damit Distanz zum gewohnten Format journalistischer Bilder. Seine Sequenzen unterliegen ganz den jeweiligen Inhalten. Auf herausragende Höhepunktsbilder wurde bewusst verzichtet.
Die Bilderzyklen dieses thematisch erarbeiteten Projektes von Peter Maria Schäfer und die menschlich berührenden Bilder von Wolfgang Bellwinkel wurden nicht für die Verwertungsindustrie der Printmedien erarbeitet, auch nicht als Auftragskunst einer entsprechenden Themenausstellung. Es sind Bilder von Zeitzeugen des Geschehens im Sinne von Georg Herold, der seine Absage an die Ausstellung "Krieg" in Graz 1993 so begründet:
"Fotografie bleibt den Zeitzeugen des Geschehens vorbehalten. Ob dieses dann unter künstlerischen Gesichtspunkten zu sehen wäre, ist die Frage. Ich bin jedenfalls nicht in der Lage, eine künstlerische Aussage zu diesem Thema zu machen, wenn der Krieg vor der Tür stattfindet." (4)
Diese Aussage beweist mehr Haltung als Sprachlosigkeit, wie ihm von Werner Fenz unterstellt wurde. (5) Sie drückt deutlich aus, welche Aufgabe der an der Wirklichkeit orientierten Fotografie zukommt, wenn sie Bilder des Erinnerns schaffen will, die dazu beitragen sollen, Kriege zu verhindern.

Angela Neuke, Essen, Juli 1994


(1) TAZ, 21.01.1992
(2) Tugendhat, KURSBUCH 105, September 1991, S. 3
(3) Rudolf Steiner, "Lucifer gnosis", Berlin 1904-908
(4) Georg Herold, KRIEG, Graz 1993, S. 62
(5) ebd.: Fenz, Graz 1993, S. 69