Sind denn wirklich alle gleich?
Erich Rathfelder
"Serben", "Kroaten" und "Moslems"
führten einen "Bürgerkrieg" in Bosnien-Herzegowina,
heisst es in der internationalen Presse.
Diese Interpretation des Krieges auf dem Balkan dient auch den
internationalen Unterhändlern bei den "Friedensverhandlungen"
oder den Vereinten Nationen bei ihrem Einsatz in Bosnien als grundlegende Sprachregelung. Aber ist diese Annahme richtig? Ist sie vielleicht sogar schuld an dem Scheitern beider Aktionen? Wie im folgenden erläutert wird, handelt es sich bei dem Krieg in Bosnien-Herzegowina nämlich nicht um einen "Bürgerkrieg".
Wie kam es zum Krieg in Jugoslawien? Schon seit dem Tod Titos,
des Staatsgründers des kommunistischen Jugoslawiens, im Jahre
1980, drifteten die sechs Republiken, aus denen Jugoslawien bestand,
auseinander. Die kommunistischen Führungen in Slowenien,
Kroa-tien, Serbien (mit den autonomen Regionen Wojwodina und Kosovo), Montenegro, Makedonien und Bosnien-Herzegowina begannen mehr und mehr, die Interessen ihrer Republiken über das Gesamtinteresse des gemeinsamen Staates zu stellen. Ende der 80er Jahre waren einige der nationalen Gegensätze
nicht mehr zu überbrücken. Vor allem der albanisch-serbische Gegensatz im Kosovo, der schon kurz nach Titos Tod 1980 erneut aufgebrochen war und sich auch später in lokalen Widerstandsaktionen von seiten der albanischen Bevölkerungsmehrheit wie in harten staatlichen Repressionsmassnahmen von seiten der serbischen Regierung ausdrückte, führte das Verfassungssystem Jugoslawiens in die Krise. Die serbisch-kommunistische Führung begann schon 1988 eine Kampagne gegen die Autonomiestatuten der Vielvölkerregion Wojwodina (Serben, Ungarn, Kroaten, Tschechen, Slowaken etc.) und der Region Kosovo (90 % Albaner, 10 % Serben und Roma) zu führen. 1988/89 wurde der autonome Status in beiden Regionen abgeschafft und die serbische Herrschaft über beide Gebiete mit repressiver Gewalt gefestigt.
In Slowenien und Kroatien führten diese Vorgänge zu
grossem Misstrauen gegenüber der serbischen Füh-rung (seit 1987 Slobodan Milosevic, zuerst Parteichef, dann Präsident) und gegenüber der Generalität der jugoslawischen Volksarmee. Letztere hatte, obwohl aus allen Nationen Jugoslawiens zusammengesetzt, die serbischen Ziele im Kosovo mit Gewalt durchzusetzen geholfen. Zwar versuchte der gesamtjugoslawische Ministerpräsident Ante Markovic 1988/89
noch verzweifelt mittels Demokratisierung und Wirtschaftsreform
dem Land eine neue Perspektive zu geben, er scheiterte jedoch
an dem Einspruch Milosevics in bezug auf die Durchführung
demokratischer gesamtjugoslawischer Wahlen. Diese hätten
vermutlich den serbischen Einfluss im Staate, aber auch der Kommunisten in Serbien zurückgedrängt. Am 14. Januar 1990 verliessen die slowenischen Delegierten den Sonderkongress des "Bundes der Kommunisten" und forderten das Mehrparteiensystem. Daraufhin wurden in Slowenien und Kroatien Wahlen für den April ausgeschrieben.
Schon seit der Gründung des "Staates der Slowenen,
Serben und Kroaten" nach dem 1.Weltkrieg wurde von seiten
der nördlichen Nationen des Staates eine föderative
Verfassung gefordert.
Dagegen hatte seit jeher die serbische Politik einen zentralistischen
Bundesstaat favorisiert, der von Serbien dominiert werden konnte.
Ende der achtziger Jahre wurden diese Forderungen der zwanziger
und dreissiger Jahre aufgegriffen. Die slowenischen und kroatischen
Präsidenten Kucan und Tudjman schlugen eine Föde-ration
für Jugoslawien vor, in der die Republiken über grosse Spielräume verfügen sollten. Dagegen hielt Milosevic an dem zentralistischen Modell fest. Auch die Generalität der jugoslawischen Volksarmee wollte (zumTeil aus Eigeninteresse) - trotz der verfassungskonformen Möglichkeit jeder Republik zum Austritt
aus der Föderation - den Gesamtstaat erhalten und unterstützte deshalb Milosevic mit militärischen Mitteln. Die geistige Basis für die serbische nationalistische Bewegung
hatte die Elite des Landes schon 1986 in einem Dokument der Akademie
der Wissenschaften formuliert. In ihm wurde die Frage gestellt,
was mit den Serben Kroatiens und Bosniens geschehen sollte, wenn
sich das zentralistische Modell nicht durchsetzen liesse
und Jugoslawien auseinanderbräche.
Die Antwort: dann müssten die Grenzen geändert
und ein grosses Serbien gegründet werden. Schon bald
nach der Teilveröffentlichung des Memorandums gingen die
serbischen Nationalisten dazu über, die Ängste der Serben
in Kroatien und Nord-Bosnien zu wecken.
Während des 2.Weltkrieges wurden die Serben dieser Region
nämlich durch die kroatischen Ustaschadikatur verfolgt und
viele Serben grausam ermordet. Es gelang seit 1989 tatsächlich, die Serben dieser Region auch militärisch zu organisieren, indem der nach Unabhängigkeit strebende kroatische Staat als neuer Ustaschastaat diffamiert wurde. In einer beispiellosen Kampagne mit dem Höhepunkt der Versammlung auf dem Amselfeld (Kosovo) 1989 wurde die gesamte serbische Öffentlichkeit für die nationalen Ziele mobilisiert und auf einen Krieg eingestimmt. Der Kommunist Slobodan Milosevic hatte sich zudem als Führer der nationalen Bewegung etabliert und damit das "System" gerettet.
Auf die Unabhängigkeitserklärung der Republiken Slowenien und Kroatien in der Nacht zum 26. Juni 1991 antwortete die jugoslawische Volksarmee mit einer militärischen Aktion gegen Slowenien. Die jugoslawische Volksarmee wurde dabei auf eine harte Probe gestellt, waren in ihr doch auch Kroaten, Slowenen, Albaner und
Muslime vertreten. Und selbst manche serbische Nationalisten standen
dem Krieg in Slowenien skeptisch gegenüber, lebten in Slowenien
doch nur wenige Serben. In bezug auf Kroatien jedoch zogen die
um viele desertierte Kroaten, Slowenen und Albaner verkleinerte
Volksarmee und die serbischen Freischärler an einen Strang. Ein grosser Teil Kroatiens, vor allem die sogenannten "serbischen Gebiete", aber nicht nur die, wurden im Laufe des Sommers und Herbstes 1991 besetzt, hunderte von Dörfern und Städten (Vukovar, Dubrovnik) zerstört oder beschossen. Noch im Frühjahr 1994 wurden die Küstenstädte Zadar und Sibenik und deren Umgebung zeitweise mit Artillerie belegt. Über 400.000 Kroaten wurden aus ihrer Heimat vertrieben und durften bislang nicht dorthin zurückkehren. Der Krieg Serbiens gegen Kroatien begann vor der diplomatischen Anerkennung Kroatiens (durch Deutschland).
Die Europäische Gemeinschaft hatte bis zum Herbst 1991 auf
den Erhalt des Staates Jugoslawien gesetzt. Vor allem Deutschland
unterstützte die Position des Ministerpräsidenten Markovic,
der jugoslawische Dinar wurde 1989 an die DM gekoppelt und damit
bis 1991 stabilisiert. Noch wenige Tage vor den Unabhängigkeitserklärungen der Republiken Kroatien und Slowenien gewährte die EG (damit auch Deutschland) dem jugoslawischen Staat einen Kredit in Milliardenhöhe. Doch der militärische Überfall auf Slowenien und Kroatien machte diese unterstützende Position immer unhaltbarer. Mit den Vertreibungen der kroatischen Bevölkerung wurde deutlich, dass die serbischen Nationalisten die Gründung eines serbischen Grossstaates anstrebten, der grosse Teile Kroatiens - so auch die dalmatinische Küste - einschliessen sollte, und nicht allein den "Schutz" der serbischen Minderheiten anstrebten. Nicht zuletzt aus Angst vor neuen Flüchtlingsströmen forderten ab August zunächst Österreich, später auch Deutschland und Italien die diplomatische Anerkennung Kroatiens und Sloweniens.
Angesichts dieses internationalen Widerstandes gegen seine Politik schlug Milosevic im November 1991 die Installierung von UNO-Truppen in Kroatien vor, am 3. Januar 1992 wurde der Vance-Plan unterzeichnet.
Der Krieg wurde (mit Ausnahmen) an den Demarkationslinien eingefroren. Die jugoslawische Volksarmee begann sich im Winter 1991/92 aus ihren Stellungen in den kroatischen Städten hinter die Frontlinie oder auch nach Bosnien-Herzegowina zurückzuziehen. Nachdem das kroatische Parlament am 16. Dezember 91 die Minderheiten- und Autonomierechte der kroatischen Serben gesetzlich verankert hatte, erklärte Aussenminister Genscher seine Bereitschaft zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen für den 15. Januar 1992.
Die meisten EG-Länder schlossen sich dieser Entscheidung
an, die USA nicht. (Die positive Alternative wäre Aberkennung
des diplomatischen Status Jugoslawiens und die Anerkennung aller
Teilrepubliken gewesen, ähnlich wie im Falle der Nachfolgestaaten
der Sowjetunion, die im Herbst 1991 allesamt anerkannt worden
sind.)
Die Behauptung, der Krieg in Kroatien sei durch die diplomatische
Anerkennung Kroatiens und Sloweniens ausgelöst oder zumindest
verschärft worden, ist angesichts der Tatsachen nicht haltbar.
Richtig ist allerdings, dass der Volkswiderstand in Kroatien
- die kroatische Armee war zu jener Zeit eine Volksmiliz -
und die ernsthafte Diskussion über die diplomatische Anerkennung
des Landes den serbischen Vormarsch stocken liess und die
jugoslawische Volksarmee zum Rückzug zwang. Nach den Verhandlungen des UN-Unterhändlers Cyrus Vance und der Installierung von UNO-Truppen in den besetzten Gebieten Kroatiens (knapp 30 Prozent der Gesamtfläche) im Frühjahr 1992 wurde der Status Quo festgeschrieben. Diese Gebiete umschliessen neben den Regionen mit eindeutig serbischer Mehrheit auch solche mit
serbischer Minderheit oder, wie in der Baranja, Landstriche mit
Vorkommen an strategisch wichtigen Bodenschätzen (Erdöl).
Auch der Krieg in Bosnien-Herzegowina ist kein Bürgerkrieg.
Die politische Führung der Republik Bosnien-Herzegowina hatte zu Beginn des serbisch-kroatischen Krieges versucht, eine Mittlerrolle einzunehmen. Da mit dem Verbleib im Staate Jugoslawien auch die bosnischen Muslime und Kroaten (44 und 18 % der Bevölkerung) sowohl für Kriegskosten aufkommen als auch für die jugoslawische Volksarmee gegen Kroatien kämpfen sollten, mehrten sich die Stimmen für die Unabhängigkeit des Staates Bosnien-Herzegowina. Ein grosser Teil der serbischen Bosnier (rund 33 % der Gesamtbevölkerung) und ihre politischen Führer allerdings unterstützten die serbischen imperialen Ziele. Die zurückgezogenen Truppen der jugoslawischen Volksarmee wurden aus Kroatien nach Bosnien gebracht. Angesichts dieser Konzentration von Militär war es schwer, eine eigenständige politische Position durchzusetzen.
Die bosnische Regierung setzte auf die Friedensbewegung und die internationale Gemeinschaft. Doch die grosse Solidarität aus dem Ausland blieb aus. Auch in Deutschland war das Engagement gering, nur wenige fanden im Herbst 1991 mit anderen europäischen Friedensaktivisten ihren Weg nach Sarajevo, die Gefahr wurde gar nicht wahrgenommen. Die jugoslawische Volksarmee solle Bosnien-Herzegowina verlassen, war die Forderung. Und die internationalen Institutionen hielten sich zurück.
Schon damals war allen bewusst, dass ein Krieg in Bosnien-Herzegowina noch zerstörerischer sein würde als der in Kroatien. Als jedoch die Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens nicht mehr revidierbar war und sich für Bosnien die Rolle eines nicht gleichberechtigten Partners in Restjugoslawien abzeichnete, foderte das Parlament am 14. Oktober 1991 die Unabhängigkeit. Im März 1992 führte die bosnische Regierung eine Volks-abstimmung durch, rund 70 % der Bevölkerung stimmte für die Unabhängigkeit, der grösste Teil der serbischen Bevölkerung in Bosnien allerdings dagegen. Serbischerseits wurde die Volksabstimmung allgemein als Bruch des "trinationalen" Staatsaufbaus gewertet. Denn es war vorher festgelegt worden, dass prinzipielle Entscheidungen nur im Einvernehmen der Vertreter der drei Bevölkerungsgruppen getroffen werden könnten.
Die Volksabstimmung war also nicht dazu angetan, die Spannungen
zu vermindern. Es ist allerdings fraglich, ob es eine Alternative dazu gegeben hätte. Denn die serbisch-nationalistische Führung unter Radovan Karadzic hatte schon vor der Abstimmung die Teilung des Landes auf ethnischer Basis proklamiert. Und sie hatte seit Ende 1989 ihre Gefolgsleute bewaffnet. So erscheint die Diskussion um den bosnisch-kroatischen Verfassungsbruch im Nachhinein als Ablenkungsmanöver von den Wünschen der serbischen Nationalisten, die serbisch kontrollierten Gebiete Bosniens, und nicht nur die, mit Serbien zu einem Grossserbien zu vereinigen. Die Spannungen wuchsen, zumal nun die serbischen Extremisten offen dazu übergingen, die serbischen Mehrheitsgebiete mit Waffengewalt zu sichern.
Der bosnische Präsident Alija Izetbegovic hoffte damals wie die übergrosse Mehrheit der Bevölkerung jedoch noch darauf, dass ein offener Krieg vermieden werden könnte. Die bosnische Regierung weigerte sich, Forderungen aus der Bevölkerung, endlich eigene bewaffnete Einheiten zu schaffen, nachzugeben. Und die muslimischen Politiker hofften ebenso, dass mit der klaren Entscheidung der bosnischen Muslime für die kroatische Seite die kroatischen Absichten um einen kroatisch-serbischen Plan zur Aufteilung Bosniens unterlaufen werden könnten. Schon im Frühjahr 1991 hatten sich nämlich die Präsidenten Kroatiens und Serbiens, Tudjman und Milosevic, in Karadjordjevo getroffen. Bei dem Treffen soll die Aufteilung Bosniens zwischen den beiden Staaten vereinbart worden sein. Dass dabei die
Interessen der bosnischen Muslime völlig unberücksichtigt
blieben, war auch für die bosnisch-muslimische Führung
anzunehmen.
Die bosnische Bevölkerung begann im Frühjahr 1992 die Gefahr zu spüren, in der sich das Land befand. An
den Tagen vor der diplomatischen Anerkennung der Republik Bosnien-Herzegowina durch die Europäische Gemeinschaft und durch die USA am 6. und 7. April 1992 kam es in den meisten Städten Bosniens wie auch in Sarajevo zu grossen Demonstrationen gegen den Krieg. Auch in kleinen Dörfern wurde auf Versammlungen
der Frieden beschworen.
Unvorstellbar jedoch schien, dass mit dem Angriff der serbischen Milizen und von Truppenteilen der jugoslawischen Volksarmee auf Sarajevo die Weltgemeinschaft gleichgültig
bleiben könnte.
Als die ersten Schreckensnachrichten aus Bjeljina und Foca, aus
Banja Luka, Prijedor und Kosarac kamen, als Sarajevo in einem
Bombenhagel unterging, war die Empörung der Weltöffentlichkeit tatsächlich gross. Doch schon damals wurde sichtbar, dass einige europäische Mächte ein direktes militärisches Eingreifen in den "Konflikt" nicht wünschten. Der französische Präsident Mitterrand besuchte zwar im Juni 1992 Sarajevo, verwarf dort jedoch die Idee einer direkten militärischen Intervention zum Schutze der angegriffenen Bevölkerung. Er versprach jedoch humanitäre Hilfe für die Eingeschlossenen. Die UNO-Truppen im Lande wurden verstärkt und mit dem Auftrag versehen,
den Transport der humanitären Hilfe zu sichern. Dutzende
von Hilfsorganisationen wurden tätig und brachten Zehntausende
von Tonnen Lebensmittel in die durch den Krieg erzeugten Hungerregionen. Doch die internationalen Institutionen scheuten sich, Partei in dem Krieg zu ergreifen, und dies, obwohl die bosnische Bevölkerung lediglich über einige Milizen verfügte, die versuchten, der hervorragend ausgerüsteten serbischen Militärmaschinerie entgegenzutreten.
Die Resultate dieses ungleichen Kampfes der Anfangszeit sind
bekannt. 70 % des Landes wurde von den serbischen Streitkräften
besetzt. Systematisch und oftmals mit unvorstellbarer Grausamkeit
wurden über 1,5 Millionen Nichtserben aus diesen Gebieten
vertrieben, Konzentrationslager wurden errichtet (Bjeljina, Prijedor,
Omarska, Manjaca etc.), Zehntausende von Frauen vergewaltigt,
manche von ihnen ermordet, über 200.000 Menschen verloren ihr Leben. Und die Überlebenden verloren ihr Eigentum und ihre angestammte Heimat. Mit den sogenannten "ethnischen Säuberungen" sollte auch die Kultur der "anderen" vernichtet werden. Über 870 Moscheen und einige Dutzend katholische Kirchen wurden zerstört, anstelle unwiderbringlicher
Kunstdenkmäler aus dem 15. Jahrhundert sind jetzt Parkplätze enstanden. Manche Landstriche sind entvölkert, Dörfer und Städte in Schutt und Asche gelegt.
Die Waffen bestimmten fortan den Gang der Dinge. Nachdem Milosevic im April 1992 die Führung der jugoslawischen Volksarmee in den Ruhestand versetzte, war die Armee zu einer rein serbischen Angelegenheit geworden. Die Truppenteile, die in Bosnien stationiert waren, gingen zusammen mit ihren Waffen
grösstenteils in der bosnisch-serbischen Armee auf,
die zudem durch Tausende von serbischen Freischärlern und
Freiwilligen aus Russland, Rumänien und der Ukraine
verstärkt wurde. Das politische Ziel der militärischen Offensive war eindeutig: Nach der Eroberung des Landes und der Vertreibung der nichtserbischen Bewohner sollten die eroberten
Gebiete mit Serbien vereinigt werden. Das Lebens- und Existensrecht
der Muslime Bosniens war von serbischen Rechtsradikalen schon
vor dem Krieg bestritten worden. Für diese Leute ist die Vernichtung der bosnisch-muslimischen Bevölkerung bis heute
Kriegsziel geblieben.
Die bosnisch-serbischen Extremisten operierten nicht im luftleeren
Raum, sie wurden von Belgrad logistisch, finanziell und politisch
gestützt. Auffällig ist, dass es nach den ersten
Monaten des Krieges 1992 kaum mehr zu Kämpfen zwischen den
kroatischen Streitkräften der HVO1 und den serbischen Streitkräften gekommen war. Anders als die bosnische Regierung hatte sich die Führung der Kroaten der Westherzegowina auf den Krieg systematisch vorbereitet. Schon vor dem April 1992 waren die Truppen der HVO aufgestellt und mit Waffen ausgerüstet. Im Kampf um Mostar erzielten die kroatischen und muslimischen Milizen im Juni 1992 erstmals Erfolge gegenüber den Serben, eine Gegen-offensive in der Ostherzegowina wurde jedoch auf Geheiss Zagrebs gestoppt. Damit wurde erstmals deutlich, dass Tudjman seine Absprache mit Milosevic über die Teilung Bosniens zwischen Serbien und Kroatien einzuhalten gedachte. Ein zweiter Hinweis darauf
war die Ausschaltung der Milizen der HOS, dem militärischen
Arm der rechtsradikalen "Partei des Rechts". In Zentralbosnien jedoch spielte diese ideologische Ausrichtung nur eine geringe Rolle, viele Muslime traten in diese Milizen ein, da die HOS sich klar für eine Koalition zwischen Kroaten und Muslimen aussprach.
Nachdem die Führung der HOS im September 1992 ermordet wurde, blieb die HVO die einzige bewaffnete Macht der Kroaten in Bosnien. Und folgerichtig kam es im Oktober 1992 schon zu den ersten Spannungen und Zwischenfällen mit den bosnischen Milizen, die schliesslich im April 1993 in einen offenen Krieg mündeten.
Damit war Restbosnien völlig von der Aussenwelt abgeschlossen. Die noch im Aufbau befindliche bosnische Armee
musste sich nun sowohl den kroatischen wie auch den serbischen
Armeen gegenüber behaupten.
Im Winter 1993/94 wurde der Hunger zur Waffe gemacht. Hilfstransporte nach Bosnien wurden von der HVO und den Serben behindert und verzögert. Mit dem Hungerwinter sollte der Wille der Bevölkerung Restbosniens, sich zu verteidigen, gebrochen werden. Und auch die kroatischen Extremisten errichteten im Sommer 1993 Konzentrationslager bei Mostar (Heliodrom, Gabela, Dretelj), auch sie vertrieben die muslimische Bevölkerung aus den von ihnen kontrollierten Gebieten um Capljina und Stola`c. Mostar wurde in Schutt und Asche geschossen, die muslimische Bevölkerung nach dem belagerten Ost-Mostar vertrieben, die Brücke von Mostar zerstört.
Dass es dennoch nicht gelang, den Widerstandswillen der restbosnischen Bevölkerung zu brechen, ist wohl eines der grössten Wunder in diesem Krieg.
Die kroatische HVO militärisch zu schlagen sowie die Linien
in Zentralbosnien gegen die serbischbosnische Armee zu halten, auch wenn mit Srebrenica und Gorazde weitere Gebiete in Ostbosnien verlorengingen, wurde sogar von westlichen Militärexperten ungläubig bestaunt. Hinzu kam das Waffenembargo gegenüber der bosnischen Armee. Sarajevo wurde zum Symbol des Durchhaltewillens der Bevölkerung.
Die bosnische Armee war somit zu dem wichtigsten Garanten für das Überleben der Bevölkerung im restbosnischen Gebiet geworden, da sich die internationale Gemeinschaft nicht zu einer
Militäraktion zum Schutze der Bevölkerung durchringen
konnte. Ja, sie behielt das Waffenembargo gegenüber den Verteidigern und Opfern der Aggression aufrecht. Und die Unterhändler der Europäischen Gemeinschaft und der UNO, Owen und Vance, später Owen und Stoltenberg, versuchten ihre Teilungspläne als "Friedenslösung" anzubieten.
Lediglich die masslosen Ansprüche der bosnisch-serbischen Nationalisten verhinderten, dass der Vance-Owen Teilungsplanverwirklicht wurde. Von kroatischer Seite war er dagegen begrüsst worden, versprach er doch den Kroaten der Westherzegowina die Kontrolle über weite Teile Zentralbosniens. Mit dem Ruf, "wir vollziehen nur den Vance-Owen-Plan", war
sogar die Offensive der HVO im Frühjahr 1993 in Zentralbosnien begründet worden. Die bosnische Regierung äusserte zwar die Vermutung, der Plan habe die Kroaten direkt zum Angriff ermuntert, sie musste sich jedoch dem damaligen internationalen Druck beugen und unterschrieb den Plan.
In den internationalen Gremien begannen sich Spannungen und politische Konflikte abzuzeichnen. Vor allem die serbienfreundliche britische und französische Politik wurde von amerikanischer Seite einer Kritik unterzogen, die schliesslich in dem Ultimatum von Sarajevo mündete.
Für den 21. Februar drohte die Nato mit Luftangriffen, wenn die serbische Seite ihre schweren Waffen aus dem Umkreis von 20 km um die Stadt nicht zurückzöge. Die bosnisch-serbische Führung beugte sich dem Druck, setzte aber die Installierung russischer UNO-Truppen im Sarajevoer Stadtteil Grbavica durch. Die USA - mit Unterstützung Deutschlands - zwangen die kroatische Regierung, den Krieg im Kriege zu stoppen und eine erneuerte Koalition mit der bosnischen Regierung einzugehen. Tudjman musste sich angesichts der militärischen Niederlage der HVO, die während der gesamten Zeit des Krieges im Kriege von regulären kroatischen Truppen unterstützt worden war, beugen. Hinzu kam, dass seine Absprache mit Milosevic in bezug auf Bosnien keine positiven Auswirkungen auf die von Serben besetzten Gebiete in Kroatien hatte. Weiterhin bleibt ein Drittel Kroatiens von Serben okkupiert.
Auf der Grundlage der erneuerten Föderation zwischen der
westherzegowiner Führung (Herceg Bosna) und der bosnischen
Regierung entstand ein neuer Teilungsplan Bosnien-Herzegowinas. Die seit Frühjahr 1994 gebildete "Kontaktgruppe" - USA, Russland,
Grossbritannien, Frankreich und Deutschland - hat damit das Heft in der Bosnienpolitik in die Hand genommen. Die Schwächen
des Planes aber liegen auf der Hand: Weder ist die Rückkehr
der Vertriebenen, noch die Bestrafung der Kriegsverbrecher in dem Plan vorgesehen - was noch der Vance-Owen-Plan im Prinzip anerkannt hatte, auch wenn die serbisch-nationalistische Seite Territorium aufgeben muss. Der Plan beinhaltet den grundsätzlichen Fehler, der auf der Theorie des Bürgerkrieges beruht. Es sind eben nicht Volksgruppen, die gegeneinander kämpfen, sondern
politische Interessen aus Serbien und Kroatien, die den Krieg
förderten.
Allein schon die Tatsache, dass der Krieg im Kriege durch
die Entscheidung Tudjmans beendet wurde, beweist, dass der Krieg von aussen kommt. Auch Serbien müsste zum Rückzug gezwungen werden. Dann wären echte Friedensverhandlungen möglich. Dass sich die internationale Gemeinschaft darauf eingelassen hat, die Ebene der Nationalisten zu akzeptieren, macht sie zu einem Schuldigen in diesem Krieg. Lediglich die Unmässigkeit der bosnisch-serbischen Extremisten verhindert die Realisierung des (vorläufig letzten) Teilungsplanes.
Die bosnische Gesellschaft (immerhin leben ja 2,5 Millionen Menschen
auf dem bosnisch, 300.000 auf dem kroatischen und rund 500.000 auf dem serbisch kontrollierten Gebiet) dagegen hält fest an ihrem Wunsch, die Einheit des Landes wiederherzustellen. Bosnische Idee versus Nationalismus.
Nationalisten, die dabei sind, ethnisch reine Nationalstaaten
aufzubauen, können es offenbar nicht ertragen, dass
es auch andere, gegensätzlich konstituierte Gesellschaften gibt. Die bosnische Gesellschaft in dem von der bosnischen Regierung kontrollierten Gebiet hält nach wie vor an dem bosnischen Gesellschaftsentwurf fest, wonach alle Volksgruppen friedlich zusammenleben sollen. Darin bestünde geradezu die bosnische Kultur und Identität, wird von bosnischer Seite aus betont. Manche Muslime Bosniens jedoch beklagen, dass angesichts des Festhaltens an dem Zusammenleben aller, die Entwicklung
der muslimischen Identität und das muslimische Nationalbewusstsein zurückgestellt würden. Tatsache ist jedoch, dass die Muslime Bosniens die tolerante Haltung und damit den unverwechselbaren Charakter der bosnischen Gesellschaft entscheidend prägen. Assistiert werden sie von grossen Teilen der zentral-bosnischen Kroaten und auch eines grossen Teils der 200.000 Serben, die noch in der von der bosnischen Regierung kontrollierten Zone leben. So sind es diese Bevölkerungsgruppen und die Mehrheit der bosnischen Muslime, die aus ihrer Geschichte heraus moderne europäische und demokratische Prinzipien verteidigen. Der Nationalismus der serbischen und kroatischen Extremisten hingegen erscheint diesem Denken gegenüber als ein Denken des 19. Jahrhunderts. Es ist wohl eine besondere Tragik für die bosniakische Bevölkerung - so der Begriff, der das Zusammenlebenwollen am besten umschreibt - dass dieser Inhalt in Europa nicht verstanden wird. Für viele Bosniaken stellt sich der Krieg als ein Krieg gegen den Faschismus dar. "Was sind eigentlich
die Bücher über die Menschenrechte, die Menschlichkeit,
die Gerechtigkeit und die Demokratie wert," sagte Mustafa Ceric, das Oberhaupt der Muslime Bosniens, Ende Juni 1994 in Sarajevo,
"wenn die europäischen Demokratien nicht in der Lage sind, angesichts der Verbrechen in unserem Land Position für
die sonst hochgehaltenen europäischen Werte zu beziehen ?" Der nun schon seit über zwei Jahren währende Raub von Land, die Vertreibung von Menschen und die fortwährenden
Verbrechen hätten lediglich deutlich gemacht, dass keine
der europäischen Gesellschaften etwas für die Verteidigung
dieser Werte riskieren will. Schlimmer noch, manche dieser Gesellschaften bezögen aus machtpolitischen Erwägungen Position für die Seiten, deren Politik der des Nationalsozialismus oder des Faschismus ähnelt.
Die Frage, die in Bosnien-Herzegowina aufgeworfen wird, berührt in der Tat unsere Gesellschaften in den Grundfesten ihres Verständnisses. Wie verhalten wir uns gegenüber einem Totalitarismus neuen Typs, der auf dem Bündnis stalinistisch-kommunistischer Strukturen und radikal-nationalistischer Bewegungen beruht? Entwickeln sich denn in Serbien und in Kroatien nicht gesellschaftliche Modelle, die schon in anderen Gesellschaften des zerfallenen sozialistischen Lagers ihre Nachahmer gefunden haben? Werden die Impulse, die von der Politik der Eroberung, des Raubs, der Verbrechen ausgehen, nicht auch unsere Gesellschaften erreichen? Werden Intoleranz und nationalistische Exzesse durch deren Duldung in Bosnien-Herzegowina nicht auch bei uns hoffähig gemacht? Die Einbindung der faschistischen Partei in die italienische Regierung jedenfalls scheint in diese Richtung zu deuten.
Um so mehr erstaunt die Gleichgültigkeit, mit der der Überlebenskampf Bosniens in den westlichen Gesellschaften wahrgenommen wird. In der westlichen Öffentlichkeit wird eben nicht registriert, dass die rest-bosnische Gesellschaft für die Verteidigung europäischer Werte steht.
Mustafa Ceric hat durchaus recht, wenn er die machtpolitischen Interessen einzelner Länder, vor allem jene Frankreichs und Grossbritanniens, kritisiert und die deutsche Politik als inkonsistent bezeichnet. Im Gleichklang damit wird in vielen kleineren Ländern der Krieg in Bosnien lediglich als "Bürgerkrieg" wahrgenommen.
Es ist eine Vogel-Strauss-Reaktion, die der Theorie vom
"Bürgerkrieg" zum Erfolg verholfen hat. Dann lässt es sich nämlich trefflich unparteiisch sein (wie in manchen Ländern während der Nazi-Diktatur). Die Gefahren, die der neue Totalitarismus für die Menschen, die direkt davon betroffen sind, brauchen dann nicht wahrgenommen zu werden. Dabei fehlt es an dem Wissen nicht, die auf die Gründe des Krieges weisen. Der Krieg ist kein "Bürgerkrieg", sondern die logische Folge einer Politik, die von aussen kommt, der Krieg ist also eine "Aggression". Verlöre die bosnische Gesellschaft diesen Krieg oder würde Bosnien mit Hilfe der "Weltgemeinschaft" geteilt, sieht Europas Zukunft düster
aus.
Erich Rathfelder, Split, Juli 1994
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